Verdrängt, verkauft – aber nicht vergessen. Ein Nachruf auf den Lohwald

Vor achtzehn Jahren, am 25.05.1999, hat die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Offenbach den Abriss der Lohwald-Siedlung beschlossen. Das Gebiet im Osten der Stadt, das fast ein ganzes Jahrhundert von ausgegrenzten, stigmatisierten und armutsbetroffenen Bevölkerungsgruppen Offenbachs bewohnt wurde, erzählt einen Teil der Geschichte Offenbachs. Und auch wenn die Stadtverwaltung erhebliche Anstrengungen unternommen hat, durch den kompletten Abriss des Gebäudebestandes und die mehrfachen Namensänderungen des Neubaugebietes, jenes Kapitel Stadtgeschichte vollständig auszulöschen, so lebt die Erinnerung an den Lohwald weiter: Sei das durch rührende Collagen auf Youtube, Facebookseiten oder nächtliche Unterhaltungen an der Theke der Virginiabar. Der Abriss der Lohwald-Siedlung, in der öffentlichen Wahrnehmung heute mehrheitlich als „Akt der Menschlichkeit“ und „notwendigen Neuanfang“ gedeutet, kann auch als trauriger Höhepunkt einer verfehlten Sozialpolitik, sowie als Station des in den 1990er-Jahren beginnenden Siegeszuges neoliberaler Politikprogramme in Offenbach verstanden werden.

Der Lohwald – Ein ganz gewöhnliches Armenviertel

Eine Besonderheit der Lohwald-Siedlung lag in ihrer geographischen Randlage am östlichen Zipfel Offenbachs, versteckt hinter Eisenbahnlinie, Schrottplätzen und dem Schneckenberg. Enstanden in den 1930er Jahren, zunächst als informelle Siedlung, später als Ansammlung von Obdachlosen-Asylen und Notunterkünften und seit den 1970ern als sog. „sozialer Brennpunkt“i bot der Lohwald einen Lebensraum für all jene Menschen, die in der Stadtgesellschaft keinen Platz finden konnten. Ebenso wie tausende vergleichbare „Armenviertel“, die in der ganzen BRD am Rande der Großstädte entstanden sind, ist auch der Lohwald das Resultat kapitalistischer Selektions-mechanismen. Damals wie heute werden Menschen, die den Verwertungskriterien der herrschenden ökonomischen Ordnung nicht entsprechen mit staatlichen Strategien und Maßnahmen konfrontiert, die jeweils zwischen Aussonderung und Disziplinierung, zwischen dem „Abschieben“ in Wohnwagen– und Containerdörfer und dem „Heranholen“ an die Wertschöpfungs-prozesse in den Industrie- bzw. Dienstleistungszentralen oszillieren. In der Lohwald-Siedlung kann dieser Prozess in historische Phasen geteilt werden: Von den zur Selbstversorgung dienenden Arbeitergärten in Fabriknähe anfangs des 20. Jahrhunderts und der vollständigen Abwesenheit von staatlichen Versorgungsleistungen bis zum Ende des zweiten Weltkrieges über die Entstehung einer zentralisierten bürokratischen Verwaltung von Armut in der Nachkriegszeit, den Aufbruch in der sozialen Arbeit in den 1970er-Jahren und deren neoliberalen Wendung im Verlauf der 1990er-Jahre. Relativ umfassende Einblicke in die Geschichte der Lohwald-Siedlung bieten die Arbeiten des Soziologen Rudolph Bauer „Obdachlos im Marioth“ aus dem Jahre 1980 und die Promotion des Erziehungswissenschaftlers Michael Koch „Jugend- und Jugendarbeit im sozialen Brennpunkt“ von 1999. Beide Veröffentlichungen stammen von Personen, die auch konkret vor Ort als Wissenschaftler bzw. Sozialarbeiter tätig waren und sich für die Verbesserung der Lebens-bedingungen der Menschen engagiert haben. Was anhand dieser Dokumente am deutlichsten Erkennbar wird, ist wie unmittelbar die Entwicklung der Lohwald-Siedlung von einem gesellschaftspolitischen Klima abhängig war (etwa von zivilgesellschaftlichen Initiativen, ver-schiedenen Konzepten von Sozialstaatlichkeit sowie Vorstellungen und Erklärungen von Armutsursachen und Strategien zu ihrer Bekämpfung) und wie sehr sich dieses Klima von Beginn der 1970er bis zum Ende der 1990er-Jahren gewandelt hat. .

Aufbruch in der sozialen Arbeit in den 1970er und 1980er-Jahren

Ende der 1960er-Jahre kam es zu ersten Kontakten zwischen den Lohwald-Bewohner*innen und Student*innen der außerparlamentarischen Opposition der Studentenbewegung, der DKP sowie der SPD Jugendorganisation. Etwa zeitgleich wurde der Soziologe Rudolph Bauer von der Stadt Offenbach mit der Fertigstellung einer Studie beauftragt, die sowohl eine Bestandsanalyse als auch städtebauliches Konzept für die Entwicklung des damaligen Marioth-Gebietes beinhalten sollte. Während die Student*innen vor allem die menschenwürdigen Wohnverhältnisse in den ehemaligen Notunterkünften und Schlichtbauten, den Gemeinschafts-Sanitäranlagen und der rigiden Durch-setzung des Anstaltsrechts anklagten, lieferte Bauer konkrete Ansätze zur Verbesserung der Lebensbedingungen in der Siedlung. Der Dokumentarfilm „Zerstörungen“ zum Thema „Kinderkriminalität“, der 1971 beim ZDF ausgestrahlt wurde, gibt einen Einblick in die Lebensrealitäten der Menschen in der damals noch als „Marioth“ bekannten Siedlung:

Als im November 1971 ein Kind in einer Notunterkunft der damaligen Marioth-Siedlung erfror und es zu einer Anzeige wegen unterlassender Hilfeleistung gegen den Oberbürgermeister kam, sah sich die Stadtverordneten-versammlung unter dem Druck der öffentlichen Debatte genötigt, noch im gleichen Jahr ein Entwicklungsprogramm für die Siedlung zu verabschieden. So wurden etwa von der Wohnungsbaugesellschaft „Nassauische Heimstätte“ von 1973 bis 1975 verteilt über mehrere Blockbauten insgesamt 112 neue Wohnungen gebaut. Das Programm beinhaltete neben Plänen zur baulichen Instandsetzung der Siedlung auch die Ausweitung von sozialarbeiterischen Tätigkeiten. Was folgte, waren Jahrzehnte der politischen Aushandlung über den Auftrag und Inhalt dieser Tätigkeiten. Nach und nach haben sich anfänglich aus Selbstorganisation hervorgegangene Initiativen institutionalisiert, so etwa die LAG Soziale Brennpunkte Hessen, eine Fach- und Lobbyorganisation für die Bewohner*innen und Sozialarbeiter*innen in „sozialen Brennpunkten“, die sich bereits Ende der 1970er-Jahre gegründet hatte. Ein besonderes Merkmal der LAG, stellte die Zusammenarbeit von Betroffenen und „Professionellen“ dar, die in den Vereinsorganen, Arbeitsgruppen und Bewohner*innenräten, in der Mitgliederversammlung und im Vorstand gleichberechtigt vertreten waren.Durch ihren politischen Einsatz für die Verbesserung der Lebensbedingungen in den „sozialen Brennpunkten“ konnten in Hessen zahlreiche kostenintensive Sanierungs- und Infrastrukturprogramme gemeinsam mit den Bewohner*innen durchgeführt und die Lebensbedingungen vor Ort verbessert werden, u.a. in der Siedlung „Mühlthal“ in Wiesbaden, der „Margarethenhütte“ in Gießen oder dem „Akazienweg“ in Darmstadt.

Die Lohwald-Siedlung in den 1990er-Jahren

Die Entwicklungsprozesse in zahlreichen vergleichbaren Armutsvierteln in Hessen finden im Lohwald jedoch keine Fortsetzung. Während in den 1970er-Jahren der politische Kampf für bessere Lebensverhältnisse im Zentrum der sozialen Arbeit stand, kam es spätestens 1982 nach einem Vorstoß der CDU-Fraktion im Stadtparlament zur Auflösung der bisherigen „Projektgruppe-Lohwald“ und damit auch des Fokus auf eine gesamtheitliche Verbesserung der Lebenssituation im Viertel. Die soziale Arbeit gliederte sich fortan in verschiedene Arbeitsbereiche, wurde institutionell der Aufsicht des Jugendamtes unterstellt und durchlief einen Prozess der Professionalisierung und Spezialisierung einzelner Teilbereiche. Zwar wurden noch Ende der 1980er-Jahre einige Versuche unternommen mittels Bewohner*innenbeteiligung durch den Bewohner*innenrat eine städtebauliche Planungsperspektive für die Siedlung zu entwickeln. Das von einem Darmstädter Professor für Stadtplanung angeleitete Projekt zum Ausbau und Sanierung der Siedlung musste jedoch 1991 aufgrund des Sparkurses der großen Koalition im Stadtparlament eingestellt werden. In der Folge kamen auch die Aktivitäten des Bewohner*-innenrates zum Erliegen. Gleichzeitig zogen anfangs der 1990er-Jahre neue Menschen mit neuen Problemen in die Siedlung, was den Bewohner*innen, nach einer Stellungsnahme des Bewohner*innenrates das Gefühl vermittelte „immer wieder in den Sumpf“ gezogen zu werden (Publikation des Sozialdienstes 1990). In diesen Jahren verschlechterte sich der bauliche Zustand der Siedlung zunehmend. Neben den Blockbauten der Nassauischen Heimstätte waren auch andere Gebäude von allgemeinen Verfallserscheinungen gezeichnet, so wurde das Eingangsstufen-Schulgebäude, das nach jahrelangem Leerstand von den Kindern der Siedlung demoliert. Eine Instandsetzung durch die Stadt und die Realisierung eines bereits in Plänen bestehenden „Kinderhauses“ wurde nicht mehr angestrebt. Allgemein wurden vorhandene Infrastrukturen nicht mehr gepflegt. Im Sommer 1990 waren zum ersten Mal Gerüchte über einen möglichen Abriss der Siedlung zu vernehmen (Offenbach Post 04.07.1990).

Wie lässt sich diese Entwicklung erklären? Weshalb blieb ausgerechnet die Lohwald-Siedlung von der in Hessen ziemlich umfassenden Sanierungswelle ausgespart? Gegen Ende der 1980er-Jahre, als die von LAG und Bewohner*innen gemeinsam entwickelten Sanierungspläne für die Lohwald-Siedlung an Form gewannen, wurde die Offenbacher Sozialpolitik von grundlegenden politischen Umwälzungen in der BRD erfasst. Wie sich zeigen wird, lässt sich die Entwicklung der Lohwald-Siedlung in den 1990er-Jahren nur vor dem Hintergrund dieser Prozesse verstehen.

Das „Offenbacher Modell“

Anfang der 1990er-Jahren erscheint ein neues Gesicht auf der Bühne der Offenbacher Kommunalpolitik. Gerhard Grandke, SPD-Kämmerer und charismatischer Managertyp, von der Bevölkerung als Bürgernah und „Macher“ wahrgenommen, schreibt sich auf die Fahnen in Offenbach mit Sozialromantik und Verwaltungsmief aufzuräumen und die Stadt aus ihrer finanziellen Notlage zu befreien. Das von Kämmerer Gerhard Grandke ausgearbeitete „Offenbacher Modell“ sah ein Maßnahmenpaket gegen die zunehmende Verschuldung der Stadtkasse und zur Erlangung eines „ausgeglichenen Haushalts“ vor. In einer Koalitions-vereinbarung einigten sich die Regierungsparteien CDU und SPD auf die Durchführung mehrjähriger Sparpläne. Im Zuge dessen wurden die öffentlichen Ausgaben reduziert, es kam zur Schließung öffentlicher Einrichtungen, der Reduzierung von Angestellten im öffentlichen Dienst und der Streichung städtischer Angebote. Weitere Schwerpunkte bildeten vor allem sozialpolitische Interventionen, etwa zur Missbrauchsbekämpfung in der Sozialhilfe oder zur Kostenreduktion im Bereich der Sozialausgaben durch die Optimierung von organisatorischen Abläufen und Kürzungen im Budget für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Der von der Offenbacher großen Koalition beschlossene Sparkurs zeigte schnell Resultate: So wurde die Zahl der Angestellten im öffentlichen Dienst von 3.393 (Stand: 1986) auf 2.183 (Stand: 1993) gesenkt. Diese drastische Reduzierung erfolgte größtenteils durch die Verlagerung städtischer Aufgaben in neu gegründete Eigenbetriebe unter anderem in den Bereichen Straßenreinigung, Müllentsorgung und Gebäudeverwaltung. Außerdem wurden drei öffentliche Schwimmbäder, ein Theater, zwei Jugendzentren und eine Stadtteilbibliothek geschlossen und zahlreiche Wohnungen und Grund-stücke aus städtischem Bestand an Private veräußert. Des Weiteren wurden die Abläufe in der Offenbacher Stadtverwaltung gezielt optimiert. So wurde beispielsweise eine Dreimonatsfrist eingeführt, innerhalb derer die Verwaltung in der Lage sein sollte, neues Baurecht zu schaffen. Diese und weitere Maßnahmen sollten der Stadt in Bezug auf die Ansiedlung von Unternehmen zu einem Wettbewerbsvorteil gegenüber der regionalen und überregionalen Konkurrenz verhelfen. Obwohl Gerhard Grandke, der sich durch den von ihm vorangetriebenen Kahlschlag im städtischen Budget den Titel des „López von Hessen“ eingebracht hatte und anschließend von der Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit ins Amt des Oberbürgermeisters gewählt wurde, stellte sich vor dem Hintergrund der anwachsenden Kosten des S-Bahnbaus bald heraus, dass Grandkes Verwaltungsreformen bei Weitem nicht ausreichten, um die Konsolidierung des Haushalts sicherzustellen. Galt Grandkes Schwerpunkt in seinen Jahren im Amt des Kämmerers primär der Reduktion der öffentlichen Ausgaben und der Optimierung des kommunalen Verwaltung-sapparates, gelangten spätestens nach seiner Wahl zum Oberbürgermeister im Jahre 1994 die „Anwerbung von einkommensstarken Bevölkerungsschichten“, eine „unternehmer-freundliche Ansiedlungspolitik“, die Aufwertung des Geschäftsumfeldes in der Innenstadt, die Entwicklung eines neuen Stadtmarketings sowie der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in den Fokus der kommunalen Politik. Die Stadt Offenbach stand mit solchen Maßnahmen anfangs der 1990er-Jahre keineswegs alleine da: Mit der bundesweiten Einführung von neuen finanz-politischen Steuerungsmechanismen ab Mitte der 1980er und verstärkt ab Beginn 1990er-Jahren, sollten in der BRD Antworten auf die krisenhafte Ökonomie und die anwachsende Erwerbslosigkeit gefunden werden. Im Zuge dieser Reformen wurde der Sozialstaat, wie er sich in der Nachkriegszeit entwickelt hatte, systematisch rückgebaut. Grund dafür waren massive politische Anstrengungen der konservativen Parteien und der Wirtschaftsverbände, die staatliche Haushaltspolitik in eine auf Haushaltsdisziplin begründete Wirtschafts- und Finanzpolitik zu transformieren. Diese Politik der „Austerität“ zeichnet sich dadurch aus, dass sie ausgeglichenen Staatshaushalt zum Idealzustand erklärt und die Erhöhung von öffentlicher Verschuldung als Ausgleichsinstrument konjunktureller Schwankungen ablehnt, da in dieser Form staatlichen Eingriffes Marktverzerrungen gesehen werden, die mit wirtschaftlichem Aufschwung nicht zu vereinbaren sind. Um letzteren nicht zu gefährden, soll das Ideal des „ausgeglichenen Haushaltes“ nicht etwa durch die Erhöhung von Steuern, sondern vor allem durch die Kürzung von staatlichen (Sozial-)Leistungen und Stellen im öffentlichen Dienst erreicht werden. Im Zuge dieser Finanzpolitischen Reformen wurde durch neue gesetzliche Bestimmungen (u.a. dem Bundes-gesetzes zur Umsetzung des föderalen Konsolidierungsprogramms (FKPG) im Jahr 1993) eine neue politische Raumordnung entworfen, die sich insbesondere durch eine Übertragung eines Maximums an Aufgaben und Verantwortlichkeit nach „unten“, an den Ort der Wertschöpfung auszeichnete. Konkret bedeutet dies, dass durch gesetzliche Neuregelungen einen Teil der wirtschaftspolitischen Verantwortung für die Erzeugung von Wachstum und Arbeitsplätzen von Bund und Ländern auf die Kommunen übertragen wurden. Gleichzeitig wurden die finanziellen Zuweisungen an ebendiese vermindert. Diese neue Raumordnung trieb die Kommunen spätestens anfangs der 1990er-Jahre in eine chronische Finanzkrise und hohe Verschuldung. Im Gegenzug sollte die entstandene Verknappung Städte und Regionen dazu anleiten, als souveräne Wirtschaftssubjekte die ihnen innewohnenden Potenziale zur eigenverantwortlichen Generierung von Wachstum und Arbeitsplätzen zu nutzen. Die durch diese Verschiebungen forcierte ungleiche räumliche Entwicklung und der angestoßene Wettbewerb um Steuergelder, Unternehmenssitze und Kontroll- und Kommandofunktionen setzte Bemühungen zur Verbesserung des Konsum-, Arbeitsplatz- und Wohnungsangebotes auf die Tagesordnung der Kommunalpolitik. Plötzlich werden sämtliche kommunale Politikfelder, wie Sozialpolitik, Städtebau oder Haushaltspolitik zu einem einzigen zusammengefasst: zur Standortpolitik.

Die Auswirkungen neoliberaler Austeritäts- und Standortpolitik auf die Entwicklung der Lohwald-Siedlung

Die Einführung von unternehmerischer Strategien in die Offenbacher Stadtpolitik – als lokale Ausprägung der umfassenden Einführung neuer Wettberbsmechanismen in der BRD – beeinflussten die Diskussion um die (Weiter-)Entwicklung der Lohwald-Siedlung Anfang der 1990er-Jahre in mehrfacher Hinsicht. Das folgende Zeitdokument – eine Sendung des HR3, die auf auf Initiative der Landesarbeitsgemeinschaft soziale Brennpunkte (LAG) im Mai 1995 aufgezeichnet wurde – macht deutlich, welche Auswirkungen der neue politische Kurs auf die Entwicklung der Lohwald-Siedlung (und die Sozialpolitik im Allgemeinen) hatte:

An der Art und Weise, wie in der Stadtgepräch-Sendung von 1995 über die Probleme der Lohwald-Bewohner*innen gesprochen wird, lässt sich die oben beschriebene Logik der Austeritätspolitik deutlich nachvollziehen: Die in der Sendung dargestellten alltäglichen Probleme der Lohwälder Bewohner*innenschaft, der miserable bauliche Zustand des Gebäudebestandes, die schlechte Anbindung durch den öffentlichen Verkehr, die sporadische Müllentsorgung, das Fehlen grundlegender Infrastrukturen wie Schulen oder Einkaufsmöglichkeiten werden von OB Grandke zu keinem Zeitpunkt unter politischen oder moralischen, sondern ausschliesslich unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Dabei werden die Forderungen der Bewohner*innen mit dem Verweis auf die hohe städtische Verschuldung und die hohen Sozialausgaben sowie der Formel „städtische Einnahmen müssen steigen, Ausgaben müssen sinken“ abgeschmettert. Während die Verhältnisse in der Lohwald-Siedlung im stadtpolitischen Diskurs der 1970er- und 80er-Jahre vor allem unter dem Gesichtspunkt verhandelt wurde, wie man Armut und Kriminalität vor Ort reduzieren könnte, steht zu Beginn der 1990er-Jahre die Frage im Zentrum, wie und wo sich Kosten reduzieren lassen.

Aber auch die Suche nach Einsparungsmöglichkeiten zielte im besonderem Maße auf die Bekämpfung von Armut bzw. von Leistungsempfänger*innen. Dies lässt sich anhand jener Diskurse, die Anfang der 1990er-Jahre in Offenbach besonders viel Platz einnahmen, aufzeigen. So wurde – wie vielen Städten Deutschlands zu dieser Zeit – auch in Offenbach die Förderung der „sozialen Durchmischung“, als neues, ganz zentrales Argument für die Auflösung von „sozialen Brennpunkten“ angeführt. Die Rede von der „sozialen Durchmischung“ – die These dass städtische Armut verhindert werden kann, wenn Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft nicht segregiert, sondern in „gemischten Wohnquartieren“ leben – diente im Zuge der Spar- und Investitionspolitik in erster Linie als Instrument zur Abwertung des (klassischem) sozialen Wohnungsbaus und der staatlichen Interventionen auf dem Wohnungsmarkt. Während der gemeinnützige soziale Wohnungsbau zur Bildung von „Ghettos“ und der „Vererbung von Armut“ geführt habe, so solle der „freie“ Wohnungsmarkt quasi automatisch eine „gesunde“ Durch-mischung hervorbringen. Mit dem Argument der Durchmischung wurde auch dem Lohwald, als stark segregiertem Stadtteil argumentativ die Existenzberechtigung entzogen. Auffällig an der „Durchmischungsdebatte“ ist dabei die Tatsache, dass der Begriff nie in Bezug auf die Entstehung von wohlhabenden Vierteln angewandt wurde (so kann auch das auf dem Gebiet des ehem. Lohwalds entstandene Neubauviertel „An den Eichen“ als stark segregiertes Viertel bezeichnet werden, ein Umstand, der im Offenbacher Diskurs um Durchmischung zu keiner Zeit Erwähnung findet). Darüber entsteht der Verdacht, dass die „Durchmischungsdebatte“ den städtischen Entscheidungsträgern als sprachliche Ausflucht diente, mittels einer vorgeschobenen „Raum-debatte“ von den kontinuierlichen Verschärfungen in der Sozialpolitik abzulenken und im gleichen Zuge die Liberalisierung des Immobilienmarktes zugunsten privater Investoren voranzutreiben.

Neben dem wissenschaftlich daherkommenden Konzept der „sozialen Durchmischung“ wurde der Kampf gegen die Offenbacher Armutsgebiete auf der Ebene der Lokalpolitik anfangs der 1990er-Jahre noch mit ganz anderen Mitteln geführt. So wurden von Sozialleistungen abhängige Menschen, von lokalen Politikern offen diskriminiert. Etwa durch den damaligen Sozialdezernenten (und heutigen Hessischen Sozialminister) Stefan Grüttner, der in einem Interview mit der FAZ (25.05.1995) davon sprach, dass man in Offenbach damit beginnen solle, „Sozialhilfeempfänger aus Stadtvierteln mit einer hohen Sozialhilfedichte rauszudrücken“. Und auch die Offenbach Post stimmte etwa zum selben Zeitpunkt mit einer mehrteiligen Serie, in der sie das Bild von schmarotzenden Leistungsempfängerinnen zeichnet, in den sozial-chauvinistischen Tenor ein. Die ohnehin schon starke Stigmatisierung der von Armut betroffenen Bevölkerung wurde durch diese Schmutzkampagne weiter vertieft, ihr Existenzrecht wurde in dieser Stadt grundsätzlich in Frage gestellt.

Die Anstrengungen Leistungsbeziehende zu marginalisieren und diffamieren fanden sich in diesen Jahren Zeitraum nicht nur auf der Ebene von Diskursen, sondern setzten auch auf der Ebene der Erwerbslosenpolitik an. Der in Offenbach vermutlich bedeutsamste Ansatzpunkt zur Reduktion von Sozialausgaben, kündigt sich bereits in der Anfangssequenz der besagten Fernsehsendung an: Aus dem Verweis darauf, dass ein Großteil der Bewohner*innen durchaus einer Erwerbsarbeit nachgingen, diese jedoch nicht zur Deckung der Lebenskosten ausreiche, lässt sich erahnen, dass bereits Anfang der 1990er-Jahre die Zeit der wohlfahrtsstaatlichen „Verwaltung“ und „Versorgung“ von armutsbetroffenen Menschen zu ende ging und das Zeitalter der „Aktivierung“ und „Qualifizierung“ von Erwerbslosen begann. Im Rahmen einer sog. „Vermittlungsoffensive“ des Offenbacher Sozialamtes sollten Erwerbslose, trotz allgemeinem Arbeitsplatzmangel, mittels Weiterbildungs- und Beschäftigungsprogrammen in den Niedriglohnsektor eingegliedert werden. Unter Federführung des (noch heute amtierenden) Leiters des Amtes für Arbeitsförderung und Statistik, Matthias Schulze-Böing, sollte die Offenbacher Sozialpolitik dahingehend umgebaut werden, dass Sozialleistungen nur noch von Personen bezogen werden können, die sich nachweislich nicht in prekäre, schlecht bezahlte und zeitlich begrenzte Jobs im wachsenden Dienstleistungssektor eingliedern lassen.

Diese Neudefinition von Armut und Erwerbslosigkeit (maßgeblich als „Mangel an Eigeninitiative“) unter dem Aktivierungsparadigma beeinflusste auch die Arbeit der Sozialarbeiter*innen im Lohwald. Diese haben ihren Einsatz für die Verbesserung der lokalen Wohn-, Lebens- und Arbeitsbedingungen, zugunsten einer „professionalisierten“ Sozialarbeit aufgegeben, die sich vornehmlich auf die individuelle Förderung ihrer Adressat*innen konzentriert. Es entstanden Projekte zur Aktivierung von erwerbslosen Jugendlichen, etwa im Rahmen des JuP (Jugend-berufshile- und Renovierungsprojekt), in welchem die Treppenhäuser der Wohnblocks der Wohnbaugesellschaft „Nassauischen Heimstätte“ renoviert wurden. Dabei produzierte der wachsende Stellenwert von Beschäftigung und Erwerbsarbeit im Aufgabenfeld der sozialen Arbeit neue Ausschlussdynamiken im Viertel: Glückten die Maßnahmen zur Aktivierung und Stabili-sierung einzelner Jugendlicher im Stadtteil, so suchten diese oftmals Anschluss an andere gesellschaftliche Milieus und zogen aus dem Stadtteil weg, da die Voraussetzungen für ein bürgerliches Leben im Lohwald (schon nur aufgrund der enormen Stigmatisierung des Stadtteils) nicht gegeben waren. Für alle anderen, die sich nicht zu einer solchen Entwicklung in der Lage sahen und die nach wie vor mit den Bedingungen ihres Lebensumfeldes zu kämpfen hatten, verfestigte sich soziale Ausgrenzung zusätzlich. Ausserdem lässt sich im Verlauf der 1990er-Jahre feststellen, dass die Gründe für das Scheitern der Sanierungsbestrebungen im Lohwald von den Sozialarbeiter*innen zunehmend am „mangelnden Engagement“ bzw. am fehlenden „Community-Gefühl“ der Bewohner*innen festgemacht wurde. Somit lässt sich auch hier feststellen, dass sich die „Aktivierungslogik“ des Sozialamtes allmählich auch in die Bewertungsmaßstäbe der Sozialarbeiter*innen einzuschreiben begann. Gefördert werden sollen nur jene, die auch Bereitschaft zeigen, Eigenleistungen zu erbringen.

Schliesslich lässt sich festhalten, dass sich die Bundesweite Sparpolitik auch auf die Arbeitsweise der LAG auswirkte. Diese nahm als etablierte Institution im Verlauf den 1990er-Jahre immer mehr die Rolle eines staatlichen Akteurs ein, der vermehrt auch in Expertengremien auf Landesebene über Geldmittelverteilung mit entscheiden konnte, der Kosten-Nutzen-Rechnungen für Kommunen anfertigte, welche als Grundlage für den Erhalt oder den Abriss eines „Brennpunktes“ dienten. Auch die Entwicklung der LAG von einer politischen Fach- und Lobbyorganisation hin zur einer, in staatliche Planungs-prozesse eingebundenen Expertin für Planungs-, Beteiligungsprozesse und Stadtumbau, kann als direkte Konsequenz der staatlichen Sparmaßnahmen betrachtet werden. Die aus letzteren hervorgegangenen Lücken im Sozialstaat mussten durch den Einsatz von privaten Vereinen und sozialen Trägern aufgefüllt werden, welche in gewissen Bereichen ohnehin über einen besseren Zugang und mehr Know-How verfügten, als es bei staatlichen Trägern der Fall war. Das neue Gehör, das der LAG in Bezug auf die hessische „Brennpunktpolitik“ geschenkt wurde, scheint zugleich innerhalb des Vereins neue Hierarchisierungen verursacht zu haben, wodurch die Stellung der professionellen Mitarbeiter*innen vor allem auf Kosten der Basis-Beteiligung durch die Bewohner*innenräte gestärkt wurde.

Der Abrissprozess

Rückblickend lässt sich sagen, dass die eben beschriebenen diskursiven und realpolitischen Veränderungsprozesse im Verlauf der 1990er-Jahre, OB Grandke Pläne zum Abriss der Lohwald-Siedlung weitgehend begünstigt haben. Die politischen Motive, die seinen Abrissplänen zugrunde lagen, sind schnell genannt: Durch die Auflösung des Viertels konnten die Ausgaben für Sozialarbeiter*innen vor Ort restlos gestrichen werden und überfällige Investitionen in soziale Einrichtungen, die öffentliche Infrastruktur und den städtischen Häuserbestand abgewendet werden. Mit der Neuvermarktung des Gebietes ließ sich ein erheblicher Gewinn erwirtschaften. Auf Grundlage des oben dargestellten Standortdiskurses, der von den Lokalpolitiker*innen in den 1990er-Jahren mantraartig wiederholt wurde, konnte nachvollziehbar begründet werden, warum dass neu entstandene Viertel ausschließlich den „einkommensstarken Bevölkerungsschichten“ als Wohnort dienen sollte. Die Nassauische Heimstätte, die sich seit der Abschaffung des Wohnungs-gemeinnützigkeitgesetztes (WGG) anfangs der 1990er-Jahren Schritt für Schritt in ein (halb-)privates Wohnungsunternehmen transformiert hatte, zeigte zuletzt kein Interesse mehr am Erhalt ihrer Blockbauten auf dem Siedlungs-Areal. Wie bereits besprochen, wurde der Abriss auf der Ebene der Offenbacher Lokalpolitik auch als Maßnahme zur Durchmischung der Bevölkerung präsentiert. Eine Erzählung, an welche sich im Verlaufe der 1990er-Jahre auch die Sozial-arbeiter*innen im Lohwald anschlossen, wenn sie im Umzug der Bewohner*innen die „Chance auf einen Neuanfang“ sahen und damit auch die allgemeine Suggestion teilten, dass die ehemaligen Lohwälder*innen außerhalb der Siedlung ein besseres Leben erwarten würde. Die Tatsache, dass sich ein Großteil der Bewohner*innen nach ihrem Auszug aus dem Lohwald in einem anderen Offenbacher „Brennpunkt“ wiederfanden, fand im Nachgang des Abrissprozesses kaum Erwähnung. Für mediale Aufmerksamkeit sorgte lediglich, dass die Stadt Offenbach offensichtlich Prämien an Bewohner*innen bezahlte, die wenn sie sich dazu bereit erklärten, die Gemeinde vollständig zu verlassen (Offenbach Post 07.02.1999). Eine Praxis, die deutlich aufzeigt, wie weit die Offenbacher Verwaltung mit ihrer „Standortaufwertung“ zu gehen bereit war, was insbesondere bei den Nachbargemeinden auf wenig Verständnis stieß.

Letztlich ist auch noch die Frage zu stellen, warum der Widerstand jener Bewohner*innen, die im Viertel wohnen bleiben wollten ausgeblieben ist? Nach einer Untersuchung der Fachhochschule für soziale Arbeit Frankfurt brachten immerhin ein Drittel der Bewohner*innen dem Umzug Ablehnung entgegen (während sich ein Drittel dafür aussprach und ein Drittel kein dezidierte Meinung dazu hatte). Bei genauerem Hinsehen lässt sich feststellen, dass diese Teile der Bewohner*innschaft durchaus Versuche der Organisierung unternommen hatten. So gründete sich kurz nach Bekanntwerden der Abrisspläne eine „Interessengemeinschaft Lohwald“, die sich mehrheitlich aus engagierten Personen aus dem früheren Bewohner*innenrat formierte. So schrieb die IG Lohwald Anfang des Jahres 1998:

„Am 16.02.1998 wurde uns mitgeteilt, dass unsere Siedlung abgerissen werden soll. Somit hätte Papa Grandke endlich erreicht, was er schon immer wollte, die Lohwaldbewohner bis über die Grenze unserer Stadt hinaus zu versetzen, die Blöcke abreißen um dann auf den frei-gewordenen Gelände Villen für besserverdienende zu bauen. Wir Bewohner können den Abriss noch verhindern, müssen uns aber einig sein darüber, was wir überhaupt wollen“ (IG Lohwald 16.02.1998).

Doch die Versuche dem Lohwald eine Zukunftsperspektive (beispielsweise als neugegründete Wohnungsgenossenschaft) zuzusprechen, fanden im allgemeinen Tenor – der Lohwald habe keine Zukunft mehr – kein Gehör mehr. Verstärkt wurde diese Stimmung durch die Belegungspolitik der „Nassauischen Heimstätte“. Leergewordene Wohnungen wurden ab 1996 nicht mehr an neue Vermieter*innen vergeben (die NH behauptete in diesem Zusammenhang, dass der „Markt den Lohwald ablehne“), was schnell zu hohem Leerstand und Vandalismus in den leeren Wohnungen führte, worauf sämtliche leerstehenden Wohnungen von der NH zugemauert wurden. Die in der Folge entstandenen Bilder von verlassenen und zugemauerten Blockbauten verfestigten den Eindruck der Perspektivenlosigkeit. Und auch die Sozialarbeiter*innen und die Mitarbeiter*innen der LAG, die sich in einem Interessenkonflikt zwischen der Unterstützung jener Menschen, die über Jahre hinweg im Bewohner*innenrat mitgewirkt hatten und gerne im Lohwald bleiben wollten, sowie ihrer Loyalität zum Oberbürgermeister in ihrem Anstellungsverhältnis als städtische Sozialarbeiter*innen bzw. staatlich anerkannte Expertenorganisation sahen, schlossen sich schließlich den Abrissplänen mit dem Anspruch an, den Umzug so „sozialverträglich“ wie möglich zu gestalten. Diese Entwicklung macht deutlich, dass ernst gemeinte Beteiligungs- und Partizipationsverfahren nur unter gewissen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen funktionieren können, sobald jedoch der Interessenwiderspruch zwischen den Entscheidungs-trägern und der Bevölkerung zu groß wird, schreckt die Stadtverwaltung nicht davor zurück, die engagierte Bevölkerung vollständig zu übergehen. Das dies auch im Vorfeld des Abrissprozesses der Lohwald-Siedlung der Fall war, lässt sich an folgendem Briefausschnitt der IG Lohwald an die Nassauische Heimstätte erkennen:

„Bei Ihrer Sitzung soll weder über noch mit der betroffenen Bevölkerung gesprochen werden. Wir hatten zwar schon Gespräche mit Herrn Bartholomäi [Leiter der Nassauischen Heimstätte a.M. des Autors] auch mit unserem Oberbürgermeister Grandke; uns wurde auch von beiden Herren eine enge Zusammenarbeit zugesichert. Die Ernsthaftigkeit dieser Zusagen muss aber mittlerweile sehr in Zweifel gezogen werden. So wurden wir nicht gehört, als die Vorgespräche zu ihrer Sitzung (…) stattfanden, obwohl dort die Grundsatzentscheidungen diskutiert und die Vorlage zu Ihrer Aufsichtsratssitzung erstellt wurde. Ein Vertreter der Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte Hessen war zwar bei dieser Vorbesprechung dabei, aber die Teilnahme eines Vertreters der IG Lohwald wurde bereits im Vorfeld von OB Grandke als unerwünscht abgelehnt. Dies hindert das städtische Oberhaupt aber nicht im Geringsten daran, allen Pressevertretern und uns gegenüber immer davon zu reden, das alle Veränderungen selbstverständlich nur zusammen mit den Bewohnern umzusetzen seien. Wegen dieser Vorgehensweise müssen wir davon ausgehen. dass die Interessensvertretung entweder als zu dumm eingeschätzt wird. Wahrscheinlicher ist jedoch die Annahme, dass es darum geht, andere Interessen durchzusetzen als diejenigen der Menschen, die hier zum Teil seit Generationen leben“ (IG Lohwald 09.07.1999).

Die „Sozialverträglichkeit“ des Lohwald-Umzugs muss folglich nicht nur an der Zufriedenheit der umgesiedelten Bewohner*innenschaft, sondern auch an den Umständen, die dazu geführt haben bemessen werden. Tatsache ist, dass einige der älteren und auch engagierten Bewohner*innen im Zuge des zähen, über drei Jahre andauernden (1999-2003) Umzugsprozesses verstorben sind. Ihr jahrelanger Einsatz für eine bessere Zukunft im Lohwald fand somit ein tragisches Ende.

Das Ende des Lohwalds, das Ende des Wohlfahrtstaates

In den 1990er-Jahren wurden neben der Lohwald-Siedlung auch die Sozialwohnungen am Lämmerspielerweg und der auf der anderen Seite des Bahndamms liegende Stadtteil „Im Eschig“, aufgelöst. Somit muss der Abriss von „sozialen Brennpunkten“ als eine strategische Praxis im Maßnahmekatalog des „Offenbacher Modells“ betrachtet werden. Die Auflösung dieser Siedlungen umfasste nicht nur die Umsiedlung oder Verdrängung einzelner, von Armut betroffener Individuen. Mit ihnen verschwanden auch die mit dem Stadtteil verbundenen Identitäten, welche von den Sozialarbeiter*innen immer wieder als Resultat einer Stigmatisierung von außen und einer Abgrenzung von innen gegenüber der restlichen Stadtbevölkerung beschrieben wurde. Während in den vorliegenden Zeitungsberichten vor allem die Überwindung der Stigmatisierung durch den Abriss der Siedlungen hervorgehoben wurde, fehlt eine genauere Auseinandersetzung mit dem Aspekt des Verlustes des gewachsenen sozialen Gefüges in den Stadtteilen. Wie es scheint, zeichnete sich die Qualität dieser Zusammenhänge nicht nur durch positive Beziehungen einzelner Bewohner*innen zu ihren Nachbar*innen und Sozialarbeiter*innen aus. Aus der Erfahrung, immer wieder von der Politik im Stich gelassen zu werden, erwuchsen Formen der Solidarität (so etwa die kollektive Besetzung einer leerstehenden Wohnung im Frühjahr 1993), der Selbstversorgung (v.a. in den Gärten der Schlichtbauten der GBO), sowie eine geteilte Skepsis gegenüber Polizei und Rechtstaat (regelmäßige Brandstiftungen an der Polizeistation erwirkten letztlich deren Schließung), sowie anderen Formen staatlichen Zugriffes. Diese autonomen Praxen, welche als unmittelbare Reaktionen auf das Versagen von Markt und Staat zu verstehen sind, stellen in Zeiten eines sich verstärkenden Zugriffs des Staates auf die Subjekte, der „Aktivierung“ und „Ressourcen-mobilisierung“, für die städtische Arbeitsintegrationspolitik einen Risikofaktor dar. Denn eine Dynamik, wie sie von der Lohwald-Siedlung ausging, lässt sich nur schwerlich kontrollieren und steht einer Logik der individuellen Anrufung (als „unternehmerisches Selbst“) im Wege. Mit der Verteilung der Lohwälder Bevölkerung über das gesamte Stadtgebiet und ihrer „Integration“ in die „normale“ Stadtgesellschaft, konnten diese Risiken wieder kontrollierbar gemacht werden und zugleich auch die kostenintensiven sozialarbeiterischen Angebote zur Unterstützung der individuellen Lebensbewältigung gestrichen werden. Diese Einschnitte werden von der Erzählung gesäumt, dass die Menschen ihren Anspruch auf eine „Sonderbehandlung“ aufgeben sollten, um ihr Leben „in die eigene Hand zu nehmen“. Das Argument der Durchmischung kann in diesem Zusammenhang auch als Argument für die Disziplinierung von Armutsbetroffenen verstanden werden, wonach deren Integration in den Arbeitsmarkt nur glücken könne, wenn jene „Milieus“ aufgelöst werden, die sie erfolgreich von der Aufnahme einer Arbeit abhalten.

Vermutlich lässt sich nicht leugnen, dass der Lohwald als Ort, an welchem Menschen mit sich überlagernden Problemen und z.T. schwierigen Biographien oftmals unfreiwillig lebten, auch „eigene“ Probleme hervorgebracht bzw. vorhandene Problemlagen zusätzlich verstärkt hat. Gleichzeitig hat der Lohwald auch sichtbar gemacht, wie Menschen in dieser Gesellschaft systematisch ausgegrenzt und stigmatisiert werden. Ein Umstand, der sich in den vergangenen zwanzig Jahren in keiner Weise zum Besseren verändert hat. Durch das vom aktivierenden Sozialstaat geförderte Selbstverständnis, dass „jeder seines Glückes Schmied“ sein solle, hat sich jedoch die Perspektive auf Armut verändert. Sie wird oftmals als „persönliches Versagen“ oder „Einzelschicksal“ verhandelt und deshalb auch nicht mehr als politisches, sondern als „individuelles“ (oft auch als „psychologisches“) Problem dargestellt. Zur Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Nachkriegszeit wurden all jene Menschen, die sich nicht in die herrschende Ordnung einzuordnen vermochten an den (Stadt-)Rand gedrängt und in Armutsvierteln eingewiesen. Mit dem Abriss des Lohwalds ist dieser Teil der Stadtgeschichte verschwunden. Die Armen sind aber immer noch da, man sieht sie einfach nicht mehr so gut.

Randbemerkung:

iDer Begriff des „sozialen Brennpunktes“ entstammt einer Definition des dt. Städtetages von 1979. Der Begriff sollte damals auf die sich häufenden Probleme und den Handlungsbedarf in spezifischen Stadtteilen in der BRD hinweisen. Im Verlauf der 1990er Jahre wurde der Begriff häufig kritisiert u.a., weil er die Stigmatisierung der Bevölkerung in dieser Stadteile reproduzieren würde. Im Rahmen des Bundes- Länderprogrammes „Soziale Stadt“ (ab 1999) wurde für die Bezeichnung von „Brennpunkten“ der ebenso wenig schmeichelhafte Begriff „Quartiere mit besonderem Entwicklungsbedarf“ verwendet